09.11.2023 | Nahost-Konflikt

Archäologische Forschung: „In Israel ist nichts mehr, wie es war“

Über den Tag an dem die radikalislamistische Hamas den stark befestigten Grenzzaun zu Israel durchbrochen und 240 Zivilist:innen verschleppt und 1.400 Menschen ermordet hat: Ein Gespräch mit zwei Archäolog:innen der ÖAW, Katharina Streit und Felix Höflmayer, die seit mehr als zehn Jahren in Israel forschen.

Es ist noch nicht lange her, da konnten Archäologe:innen der ÖAW in Israel Ausgrabungen durchführen. Daran ist derzeit nicht zu denken. © ÖAW

Vor etwas mehr als einem Monat, am Morgen des 7. Oktober, erhält Felix Höflmayer eine WhatsApp-Nachricht. Darin steht: Raketenalarm in Jerusalem, alle sollen sich in den Schutzraum begeben. Die Warnung stammt vom Leiter des Albright Institute of Archaeological Research in Jerusalem, wo er im Jänner eine Gastprofessur antreten soll. Höflmayer, der gemeinsam mit Katharina Streit seit 2017 die österreichischen Ausgrabungen am Tel Lachisch in Israel leitet, ist zu diesem Zeitpunkt privat in Deutschland. Raketenbeschuss auf Jerusalem kommt selten vor, denkt er sich und weicht an diesem Tag nicht mehr von seinem Mobiltelefon, um die Nachrichten zu checken.

Von einem Anschlag auf den Staat Israel ist zu lesen. Zu Beginn ist von 30 Opfern die Rede. Im Laufe der nächsten Stunden steigt die Zahl der Opfer immer weiter an. Rund 1.400 Menschen werden von der radikalislamistischen Hamas an diesem Tag ermordet. Die schiere Zahl der Opfer macht Höflmayer sprachlos. „Ich hätte nie gedacht, dass wir derartiges einmal erleben werden“, sagt er.

Zäsur in der Geschichte Israels

Das Handy von Katharina Streit hört nicht auf zu piepsen. Den 7. Oktober verbringt die Archäologin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Via WhatsApp schicken ihr Freund:innen Updates aus Israel, dass sie in Sicherheit seien, dass die Stimmung furchtbar und unheimlich zugleich sei. Und spätestens am Abend wird ihr klar: Das nimmt eine Größenordnung an, die man so noch nicht gesehen hat.

Das erste, was wir neuen Mitarbeiter:innen bei unserer Grabung zeigen, ist der Schutzraum und wie lange man dorthin braucht.

Raketenbeschuss auf Israel hat eine traurige Routine: „Das erste, was wir neuen Mitarbeiter:innen bei unserer Grabung zeigen, ist der Schutzraum und wie lange man dorthin braucht“, sagt Katharina Streit. Schließlich sind es von Tel Lachisch bis nach Gaza nur 30 Kilometer Luftlinie. Aber jetzt ist es anders als sonst. „Ich weiß nicht, ob wir in den Nahen Osten, so wie er im Moment aussieht, auf die gleiche Art und Weise zurückgehen können“, sagt sie. Seit 14 Jahren forscht Streit in Israel und hat 11 Jahre in Jerusalem gelebt. Sie erzählt von Bekannten, die in ihren Familien Opfer zu betrauern haben, darunter ein Kollege, dessen 25-jähriger Sohn am 7. Oktober von der Hamas getötet wurde.

Akademische Welt und Antisemitismus

Erst vor wenigen Wochen haben die beiden Wissenschaftler:innen, die am Österreichischen Archäologischen Institut der ÖAW tätig sind, Israel verlassen. Jetzt wissen sie nicht, wann sie wieder zurückkehren können, in ein Land, wo jetzt nichts mehr so ist, wie es war. Viele israelische Studierende und Lehrende wurden für den Militärdienst eingezogen. Die Universitäten haben den Beginn des Semesters auf unbestimmte Zeit verschoben. Alles Akademische ruht. Und während der israelisch-palästinensische Konflikt in eine neue und erschreckende Phase eingetreten ist, verbreitet sich vielerorts eine antisemitische Haltung, die bis zur offenen Sympathie mit der Hamas geht – auch an Universitäten.

Es wird eine Zeit nach dem Krieg geben. Wir werden wieder zurück nach Israel kommen und Archäologie wird wieder unsere Priorität sein können.

„Was ich im Moment besonders gruselig finde, sind die Reaktion von Studierenden an US-amerikanischen Spitzenuniversitäten, etwa in Harvard und Stanford“, berichtet Höflmayer. In Harvard hat eine propalästinensische Studentenorganisation im Zusammenschluss mit anderen Organisationen, ein Statement verfasst, in dem sie Israel einzig und allein für den Angriff verantwortlich macht. Die Universitätsleitung hat sich davon distanziert. Wie werden zukünftig auf internationalen Konferenzen palästinensische Wissenschaftler:innen mit israelischen Kolleg:innen umgehen, fragt sich der Forscher.

Keine einfachen Lösungen

Fest steht: Die radikalislamistische Terrormiliz Hamas hat nichts mit einer palästinensischen Freiheitsbewegung und dem Streben nach einem eigenen Staat zu tun, sondern mit der Auslöschung Israels. „Es gibt keine einfache Lösung, auch wenn wir sie alle gerne hätten,“ ist Streit überzeugt. Es ist wichtig, auf die Komplexität des Konflikts hinzuweisen. Und: „Wie wir über diesen Krieg berichten, verändert unsere Wahrnehmung. Worte beeinflussen unser Denken. Gerade in der Wissenschaft wissen wir das sehr gut und sollten vorsichtig sein, welche Narrative wir bedienen.“

Für Streit war es dieser Tage das erste Mal, dass sie sich in den Straßen Wiens unsicher gefühlt hat und sie zu einer Freundin sagte: Lass uns jetzt besser nicht Hebräisch sprechen. Früher hatte sie die Sorge von israelischen Kolleg:innen eher als Überreaktion wahrgenommen. Doch plötzlich spürt auch sie die Bedrohungssituation in einer aufgeheizten Stimmung. „Es wird eine Zeit nach dem Krieg geben“, sagt sie. Und: „Wir werden wieder zurück nach Israel kommen und Archäologie wird wieder unsere Priorität sein können“, daran lässt sie keinen Zweifel. Aber: Wann das sein wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. 

© ÖAW/ÖAI

 

AUF EINEN BLICK

Felix Höflmayer studierte Ägyptologie und Klassische Archäologie an der Universität Wien. Er forschte u.a. am Deutschen Archäologischen Institut in Amman (Jordanien) und Berlin sowie am Oriental Institute der University of Chicago. Seit 2017 ist er Grabungsleiter Tel Lachisch, Israel (gemeinsam mit Katharina Streit).

Katharina Streit studierte Archäologie und Anthropologie in Freiburg und Oxford sowie an der Hebrew University of Jerusalem. Sie leitete Ausgrabungen in der chalkolithischen Stätte von Ein el-Jarba, Israel und leitet aktuell die Ausgrabungen in Tel Lachish (gemeinsam mit Felix Höflmayer).

Tel Lachisch ist einer der bedeutendsten bronze- und eisenzeitlichen Fundorte des heutigen Israel. Während die eisenzeitliche Besiedelung und die Siedlungsschichten der Spätbronzezeit durch frühere Grabungen als gut erforscht gelten können, war lange Zeit insbesondere die Mittel- und frühe Spätbronzezeit des Fundplatzes nur in wenigen Ausschnitten bekannt. Im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF mit einem START-Preis geförderten Projektes „Tracing Transformations“ untersucht seit 2017 ein österreichisch-israelisches Team unter Leitung der ÖAW gezielt die Siedlungsschichten der späten Mittel- und frühen Spätbronzezeit.