19.10.2023 | Neues Buch

Arthur Schnitzler: Unerforschte Interviews und Leserbriefe veröffentlicht

Der Arzt und Autor Arthur Schnitzler gab äußert ungern Interviews. Was ihn künstlerisch und persönlich beschäftigte, vertraute er seinem Tagebuch an. Doch stimmt dieses gängige Bild überhaupt? Nein, sagt ÖAW-Literaturwissenschaftler Martin Anton Müller und belegt das mit einer neuen Buchveröffentlichung, die eine bislang wenig bekannte Seite Schnitzlers zeigt.

Von Arthur Schnitzler sind zahlreiche Interviews und Leserbriefe erhalten, wie neueste literaturwissenschaftliche Forschungen zeigen. © Wikimedia Commons

Der österreichische Arzt, Erzähler und Dramatiker Arthur Schnitzler (1862–1931), dessen Todestag sich am 21. Oktober zum 92. Mal jährt,  gab angeblich keine Interviews und äußerte sich nicht öffentlich. 180 weitgehend vergessene, bislang unerforschte Texte widerlegen dieses Bild und bieten einen neuen Blick auf Schnitzler als öffentliche Person. Der Literaturwissenschaftler Martin Anton Müller vom Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beweist mit seinem gerade erschienenen Buch  “Das Zeitlose ist von kürzester Dauer“ die Bedeutung des Autors als Leserbriefschreiber und Interviewpartner für seine Zeitgenoss:innen.

SKANDALE UND RICHTIGSTELLUNGEN

Sie nennen Ihr Buch eine „öffentliche Biografie“. Was ist darunter zu verstehen?

Martin Anton Müller: Die Rezeption Schnitzlers zu seinen Lebzeiten ist nicht ausreichend erfasst. Das meiste, was wir direkt über diesen Autor wissen, wurde dem zehnbändigen Tagebuch, von dem im Jahr 2000 der letzte Band erschienen ist, entnommen. Im Tagebuch steht auch, dass er keine Interviews gab. Umso mehr war ich überrascht, als ich bei meiner Recherche durchaus Interviews gefunden habe. Dass es sehr wohl einen Schnitzler als öffentliche Figur zu Lebzeiten gab. Seine Zeitgenoss:innen konnten einiges über Schnitzler aus gedruckten Gesprächen, Meinungsäußerungen und Leserbriefen erfahren.

Ist der Autor für sein Publikum verantwortlich? Soll ich etwa in der Tür stehen, und jede Person, die hereinkommt, psychoanalysieren, um festzustellen, ob jemand aus niedrigen erotischen Motiven ins Theater geht?“ (Arthur Schnitzler)

Wie unterscheidet sich dieses Bild von unserem heutigen?

Müller: Schnitzlers Tagebuch ist ein Selbstbild, das er für die Nachwelt geschrieben hat. Wir sind die Adressat:innen. Seine Zeitgenoss:innen hat er vertröstet, dass sein Tagebuch alles über ihn enthalten werde. Deshalb wurde lange übersehen, dass auch zu Lebzeiten viele direkte Äußerungen von ihm entstanden sind. Leserbriefe hat er geschrieben, um Richtigstellungen zu seiner Person zu machen, etwa, wenn in Interviews etwas Falsches behauptet wurde. Er hat sich aber auch als Arzt zu Gesundheitsthemen zu Wort gemeldet.

Haben Sie konkrete Beispiele für Interviews?

Müller: Am 14. Februar 1921 erschien ein Bericht in der britischen Tageszeitung „Daily Herald“. Der Wien-Korrespondent berichtet von dem Skandal um die „Reigen“-Erstaufführung in Wien. Damals gab es Demonstrationen, Schnitzler wurde als „Pornograph“ und „jüdischer Schweineliterat“ beschimpft. Gegenüber dem Reporter nahm Schnitzler Stellung und fragte: „Ist der Autor für sein Publikum verantwortlich? Soll ich etwa in der Tür stehen, und jede Person, die hereinkommt, psychoanalysieren, um festzustellen, ob jemand aus niedrigen erotischen Motiven ins Theater geht?“ Das ist die einzige Stelle, an denen er öffentlich mit der Psychoanalyse kokettiert und sich selbst als Analytiker der neuen Therapie ins Spiel bringt. Erst im Nachlass konnte man dann den Briefwechsel mit Sigmund Freud lesen.

ANEKDOTEN UND THEATERFLOPS

Er wurde also auch von ausländischen Zeitungen befragt?

Müller: Ja, auch da gibt es interessante Entdeckungen. Schnitzlers Eltern waren ungarische Juden, in den Interviews mit ungarischen Zeitungen wurde versucht, ihn als Sohn Ungarns zu reklamieren. Überhaupt finde ich es überraschend, wie weit er als öffentliche Figur von Interesse war. Sogar in Kuba wurde ein Interview mit Schnitzler nachgedruckt.

Es ist überraschend, wie weit Schnitzler als öffentliche Figur von Interesse war. Sogar in Kuba wurde ein Interview mit Schnitzler nachgedruckt.

Schnitzler gab ungern Interviews. Merkt man das den Gesprächen an?

Müller: Er hat versucht, Interviews zu vermeiden, wo es ging.  Um von sich abzulenken, hatte er ein Repertoire an Anekdoten aus seinem Leben, die erzählte er dann. Ohne Interviews würden wir diese Anekdoten gar nicht kennen. Sie sind im Tagebuch nur in Andeutungen vorhanden und nicht immer verständlich. Eine dieser Anekdoten bezieht sich auf den Theatertext „Abschiedssouper“ aus dem frühen Einakter-Zyklus „Anatol“. Schnitzler saß im Publikum, er dachte, es werde ein Flop, weil niemand lachte. Deshalb wollte er sich aus dem Theater schleichen. Plötzlich hörte er aber laute Lacher, die Stimmung wurde besser. Eine Schauspielerin hatte einen Sahnetopf über ihren Kollegen gelehrt. Ein Missgeschick hatte also dazu geführt, dass sein Stück doch noch ein Erfolg wurde.

 

AUF EINEN BLICK

Martin Anton Müller ist seit 2018 Projektleiter am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und hat zahlreiche Arbeiten zu Arthur Schnitzler publiziert.