23.10.2023 | Nahost-Konflikt

„Das ist antisemitische Täter-Opfer-Umkehr“

Seit dem Angriff der radikalislamistischen Hamas verbreiten sich wieder verstärkt antisemitische Vorurteile – bis hin zu offenem Judenhass. Wie der Terror von vielen im Westen relativiert wird, darüber spricht die ÖAW-Historikerin und Antisemitismusforscherin Isolde Vogel im Interview.

Solidaritätskundgebungen für Israel wendeten sich in den letzten Tagen in ganz Europa gegen den Terror der Hamas und gegen Antisemitismus. Doch es gab auch Demonstrationen, die die Terrorangriffe relativierten und auf denen eindeutig antisemitische Parolen zu hören waren. © Shutterstock

Der Krieg in Nahost hat die antisemitische Stimmung auch im Westen aufgeheizt. Bei propalästinensischen Demonstrationen in Wien werden antisemitische Parolen skandiert. Über die Wurzeln von israelbezogenem Antisemitismus und was gegen Antisemitismus hilft, spricht die Historikerin und Antisemitismusforscherin Isolde Vogel im Interview.

„Wir müssen es schaffen auch jungen Menschen zu vermitteln, dass unterkomplexes Denken oder eine simplifizierende Weltsicht nicht die Lösung bringt, die sie verspricht“, sagt Vogel. Sie ist Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

RELATIVIERUNGEN UND ISRAELKRITIK

Nach den Anschlägen der radikalislamistischen Hamas auf die israelische Bevölkerung, wo Tausende Menschen von Terrorist:innen gefoltert, verschleppt und ermordet wurden, kursierten unterschiedliche Deutungen. Vielfach wurde der Überfall relativiert, von manchen sogar bejubelt. Woher kommt diese Empathielosigkeit angesichts der Gewalt?

Isolde Vogel: Diese Relativierungen sind in ein Muster antisemitischer Äußerungsformen einzuordnen, die auf alten und bekannten antisemitischen Denkfiguren basieren. Etwa, dass „die Juden“ an allem Schuld seien, eben auch an den Verbrechen, die gegen sie begangen werden. Das ist typisch antisemitische Täter-Opfer-Umkehr. Der Forschung sind israelbezogener Antisemitismus und seine Anknüpfungspunkte zum Islamismus bekannt. Der Jubel über die verheerenden Massaker geht aber weit über die islamistische Szene hinaus. Es ist erschreckend, dass eine breite Masse diesen Terror verherrlicht.

Auch in Wien waren in den letzten Tagen antisemitische Vernichtungswünsche zu hören. Mit Parolen wie „From the river to the sea“ wird letztlich die Vernichtung Israels gefordert.

Ist das eine neue Form des Hasses auf Israel und Jüdinnen und Juden?

Vogel: Der israelbezogene Antisemitismus unterscheidet sich nicht auf der ideologischen Ebene von anderen Formen des Antisemitismus, aber er ist eine eigene, verklausulierte Ausdrucksform mit großer Anschlussfähigkeit. Man versteht sich selbst nicht als antisemitisch. Es ist wie es der Sozialwissenschaftler Bernd Marin schon in den 1970er-Jahren beschrieben hat: ein Antisemitismus ohne Antisemit:innen. Indem man sich hinter vermeintlich legitimen Äußerungen und sogenannter „Israelkritik“ versteckt, macht man sich weniger angreifbar. Anders in der arabischen Welt, wo Antisemitismus kein öffentliches Tabu darstellt. Antizionistischer Antisemitismus war dort auch schon vor der Staatsgründung Israels verbreitet.

DÄMONISIERUNG, DELEGITIMIERUNG, DOPPELSTANDARDS

Apropos Kritik an der israelischen Politik. Wo beginnt Antisemitismus?

Vogel: Kritik an der israelischen Regierung ist nicht nur legitim, sondern passiert auch permanent – weltweit und innerhalb Israels. Es gab 2023 große Proteste der israelischen Demokratiebewegung, gegen die geplante Justizreform der aktuellen Regierung unter Benjamin Netanjahu.
Antisemitisch wird es, wenn antisemitische Ressentiments bedient werden, beispielsweise wenn behauptet wird, dass es nicht möglich sei, israelische Politik zu kritisieren, weil da irgendwelche Machenschaften im Hintergrund laufen würden, die das unterdrückten oder Medien manipuliert würden.

Aus der Forschung kommen auch Tools, etwa der „Drei-D-Test“ von Nathan Sharansky, der es ermöglicht Kritik von Antisemitismus zu unterscheiden: Die drei Ds stehen für Dämonisierung, wenn Israel verteufelt, der Zionismus mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt oder etwa Gaza als Konzentrationslager bezeichnet wird; Delegitimierung, wenn das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht Israels in Frage gestellt wird; und Doppelstandards, also andere Maßstäbe an Israel angewandt werden, als an andere Staaten.

Antizionistischer Antisemitismus, gerade auch aus linker, muslimischer und antikolonialer Perspektive, ist lange Zeit bagatellisiert geworden.

Antisemitische Parolen werden vielerorts bei propalästinensischen Demos verbreitet – und kommen oft im Jargon des Antikolonialismus daher. Wie beurteilen Sie diese Kundgebungen?

Vogel: Mir fehlt der kritische Blick in der medialen Repräsentanz von dem, was hier gerade passiert. Auch in Wien waren in den letzten Tagen antisemitische Vernichtungswünsche zu hören. Da waren etwa „Khaybar Khaybar ya yahud“-Rufe, die auf einem alten Vertreibungsszenario beruhen und als antisemitischer Schlachtruf zu deuten sind. Aber auch mit „From the river to the sea“ wird letztlich die Vernichtung Israels gefordert. Medial wurde ziemlich verharmlosend dargestellt, dass die Demonstrationen ohne Vorfälle verlaufen seien. Dabei gab es eine Unmenge an Vorfällen, allen voran eine hetzerische Stimmung, auch gegen Journalist:innen. Antizionistischer Antisemitismus, gerade auch aus linker, muslimischer und antikolonialer Perspektive, ist lange Zeit bagatellisiert geworden.

PROPAGANDA UND FAKE NEWS

Es ist also auch eine Sache von Desinformation?

Vogel: Israelbezogener Antisemitismus hat viel mit verzerrter Darstellung und Fake News zu tun. Das reicht von Hamas-Propaganda über Behauptungen, dass Israel den Terror finanzieren würde oder die Videos vom Massaker gefälscht seien. So funktioniert Antisemitismus: Sich die Welt in vereinfachter Weise zu erklären, auf der einen Seite ein Aggressor und auf der anderen Seite ein unterdrücktes Volk zu sehen, gibt Menschen das Gefühl von Kontrolle und wirkt befriedigend. Auch wenn die Hamas ein Massaker begeht, 1.400 Menschen tötet und hunderte foltert und entführt: Im antisemitischen Denken ist weder Platz für die Verurteilung dieses Terrorangriffs, noch für das Aushalten der Tatsache, dass die Lage komplex ist.

Die Hamas richtet sich gegen die Aufklärung, gegen moderne Errungenschaften, ist eine anti-emanzipatorische und frauenverachtende Organisation, angetrieben von einer antisemitischen Erlösungsfantasie.

Jüdinnen und Juden müssen weltweit mit der Angst vor weiterer antisemitischer Aggression leben. Was hilft gegen Antisemitismus?

Vogel: Als Wissenschaftlerin habe ich die Hoffnung, dass Aufklärung hilft. Das ist auch Teil meiner Motivation, warum ich diese Arbeit mache. Es ist wichtig zu benennen, wofür die islamistisch-antisemitische Hamas steht: Sie richtet sich gegen die Aufklärung, gegen moderne Errungenschaften, ist eine anti-emanzipatorische und frauenverachtende Organisation, angetrieben von einer antisemitischen Erlösungsfantasie. Es ist wichtig jetzt über Antisemitismus zu sprechen, aber auch dann, wenn es gerade nicht so akut ist. Das aktuelle Geschehen lässt sich nicht in einem TikTok-Video erklären und auch nicht auf ein paar Info-Slides auf Instagram. Wir müssen es schaffen auch jungen Menschen zu vermitteln, dass unterkomplexes Denken oder eine simplifizierende Weltsicht nicht die Lösung bringt, die sie verspricht. Und das ist automatisch auch ein Kampf gegen Antisemitismus, weil dieser die grundlegendste komplexitätsreduzierende und verschwörungsmythische Ideologie ist.

Isolde Vogel. © IKT | Stefan Csáky

 

AUF EINEN BLICK

Isolde Vogel ist Historikerin und Antisemitismusforscherin und assoziierte Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie forscht zur Geschichte und Ideologie des Nationalsozialismus und der völkischen Weltanschauung sowie zu Antisemitismus.