23.06.2023 | Fakten statt Mythen

Russland als Opfer und Ukraine als Aggressor?

Verschwörungstheorien zum Krieg in der Ukraine im Faktencheck: Der Osteuropa-Historiker und ÖAW-Mitglied Wolfgang Mueller reagiert mit wissenschaftlich gesicherten Informationen auf gängige Theorien und Gerüchte zu den Hintergründen des Krieges.

Russland richtete bei Angriffen auf die Ukraine enorme Zerstörungen an - unter anderem in der Hauptstadt Kiew. © AdobeStock

Vom Verrat der NATO bis zu den USA als Profiteuren des Krieges - an verschwörerischen Geschichten über die vermeintlich "wahren" Ursachen des seit 2022 tobenden Krieges in der Ukraine mangelt es - gerade im Netz - nicht. Doch was ist dran an derartigen Legenden?

Wolfgang Mueller hat darauf Antworten. Der Osteuropa-Historiker, stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), knöpft sich einige der gängigsten Mythen zum Krieg in der Ukraine vor - und klärt sie mit historischem Fachwissen auf.

Wolfgang Mueller:

Das ist auf mehreren Ebenen falsch.

Erstens sagt das Völkerrecht klar, dass souveräne Staaten keinen Drittstaat fragen müssen, wenn sie einer internationalen Organisation oder einem Verteidigungsbündnis beitreten wollen. Russland hat somit kein Recht, über die Mitgliedschaft anderer Staaten in der NATO oder EU mitzureden.

Die „Erweiterung“ hat zweitens zu keiner Bedrohung für Russland geführt. Sie ist auch gar nicht von der NATO ausgegangen, sondern von den Beitrittswerbern, die diese aus eigenem Sicherheitsbedürfnis insbesondere aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit Besetzung und Unterdrückung durch Russland und der Sowjetunion angestrebt haben. Bei der Aufnahme ostmitteleuropäischer Staaten wurden dennoch die Sicherheitsinteressen Russlands von der NATO stets berücksichtigt. Das wurde in der NATO-Russland-Akte 1997 festgeschrieben und eingehalten.

Russland hat mit seinem Angriff auf die Ukraine den finnischen Beitritt praktisch provoziert und die NATO-Erweiterung damit vorangetrieben."

Drittens stand ein ukrainischer NATO-Beitritt nicht auf der Tagesordnung. Zwar gibt es in der Ukraine seit der Orangen Revolution und spätestens seit Beginn der russischen Aggression 2014 das Streben nach mehr Sicherheit und Integration durch einen NATO-Beitritt. Aber insbesondere Deutschland und Frankreich haben bis zuletzt gebremst.

Wenn Russland viertens wirklich bestrebt gewesen wäre, die Aufnahme neuer Staaten in die NATO zu verhindern, hätte es den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine nicht beginnen dürfen. Seit den ersten Tagen des Überfalls 2022 war klar, dass die skandinavischen Staaten Finnland und Schweden als Reaktion einen Beitritt zur NATO suchen würden. Russland hat mit seinem Angriff auf die Ukraine den finnischen Beitritt praktisch provoziert und die NATO-Erweiterung damit vorangetrieben.

Wolfgang Mueller:

Alle getroffenen Vereinbarungen wurden respektiert."

Anfang 1990 stimmte Gorbatschow der deutschen Wiedervereinigung zu, wollte aber verhindern, dass ganz Deutschland NATO-Mitglied ist. Um das leichter akzeptabel zu machen, schlugen (der damalige westdeutsche, Anm.) Außenminister Genscher und sein US-Pendant Baker vor, dass die NATO-Strukturen “keinen Zoll” nach Osten rücken. Das war auf Deutschland bezogen. Genscher wollte diesen Vorschlag auch auf Ostmitteleuropa anwenden, das wäre aber aus Gründen der Staatensouveränität problematisch und hat bei den Verhandlungen dann keine Rolle mehr gespielt. Im 2+4-Vertrag über die Wiedervereinigung wurde festgehalten, dass in der ehemaligen DDR keine ausländischen NATO-Streitkräfte stationiert werden, d.h. die NATO nicht „vorrückt“. Verträge, die über Deutschland hinausgehen, gab es nicht. Die Einschätzung, dass es nach der Wiedervereinigung keine Osterweiterung geben werde, war aber damals weit verbreitet.

Wolfgang Mueller:

Eine solche Unterdrückung gab es nicht."

Eine solche Unterdrückung gab es nicht. Vor der Unabhängigkeit 1991 waren vielmehr die ukrainische Sprache und Identität phasenweise unterdrückt: Im späten Zarenreich waren Bildung und Bücher in ukrainischer Sprache verboten; und auch das Sowjetregime unterdrückte die ukrainische Identität phasenweise – mit dem Höhepunkt unter Stalin. Ferner wurden im 19. und 20. Jahrhundert Russen in der Ukraine angesiedelt. Es gibt daher in der Ukraine eine russischstämmige Minderheit von etwa 17 % und eine russischsprachige von etwa 29 %. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, wurde  Ukrainisch die alleinige Amtssprache. 2012-17 war Russisch aber regional als zweite Amtssprache anerkannt. Das endete nach der russischen Aggression. Ein Verbot von Russisch oder eine Unterdrückung der russischstämmigen Bevölkerung war aber nie Thema.

Wolfgang Mueller:

Die kontinuierliche Staatstradition der Ukraine in den bestehenden Grenzen ist relativ kurz, aber das heißt nicht, dass es keine Tradition gibt. Vor allem besagt das nicht viel. Geschichte rechtfertigt sehr wenig und schon gar keinen Krieg.

Geschichte ist ein Prozess und kein Codex, aus dem man Territorialansprüche ableitet."

Die Staatstradition der Ukraine hat aber mehrere Wurzeln. Das Reich der Kiewer Rus, ein von Normannen um 860 gegründeter kulturell hochentwickelter Handelsstaat, war einer der größten in Europa und bestand fast 400 Jahre. Kiew ist seit dem 5. Jahrhundert besiedelt, lange bevor Moskau im 12. Jahrhundert gegründet wurde, und war Jahrhunderte das Zentrum dieses Staates. Später stellten mehrere Staatsgebilde den Anspruch, Nachfolger der Großfürsten von Kiew zu sein: etwa Litauen, der Moskauer Staat und auch die Kosaken im Grenzgebiet zwischen beiden, d.h. in der Zentral-Ukraine, die eine eigene kulturelle Identität entwickelten. Die Kosaken sind die zweite zentrale Traditionslinie ukrainischer Staatlichkeit.

Eine moderne Nationalbewegung ist in der Ukraine wie vielerorts im 19. Jahrhundert entstanden. Als 1918 auf dem Boden der Imperien der Habsburger und der Zaren neue Staaten entstanden, erklärte sich die Ukraine zuerst autonom und nach der Machtübernahme der Bolschewiken in Russland für unabhängig. Aber die Rote Armee eroberte die Ukraine und installierte ein bolschewistisches Regime, das 1922 der Sowjetunion beitrat. Damit endet die dritte Phase der Unabhängigkeit. Wir sehen also, Geschichte ist ein Prozess und kein Codex, aus dem man Territorialansprüche ableitet. Ununterbrochene Eigenstaatlichkeit ist keine Voraussetzung für nationale Identität und ihre Abwesenheit rechtfertigt keinen Angriffskrieg.

Wolfgang Mueller:

Die Trumpfkarte der meisten politischen Verschwörungstheorien ist der Antiamerikanismus. Das liegt wahrscheinlich an der Dominanz der USA nach 1945. Wer so mächtig ist, hat viele Kritiker und Feinde und macht natürlich auch viele Fehler. Der Kriegsausbruch liegt aber nicht im Interesse der USA. Seit Präsident Obama sehen sie China als größte Herausforderung der internationalen Sicherheit. Das Eröffnen einer „zweiten Front“ in Europa wäre somit kontraproduktiv.

Die Trumpfkarte der meisten politischen Verschwörungstheorien ist der Antiamerikanismus."

2021 hat Joe Biden auf dem Genfer Gipfel versucht, einen russischen Angriff abzuwenden, und angeboten, über die russischen Anliegen zu sprechen. Die USA haben also strategisch kein Interesse an einem Krieg, sondern – wie die Europäer – daran, dass die Ukraine sich erfolgreich verteidigt. Sie ziehen zweitens auch keinen Gewinn aus diesem Krieg, denn die Militärhilfe zahlen zunächst die US-Steuerzahler. Am Stammtisch heißt es oft, dass Kriege Geld bringen. Das gilt aber nur für die Rüstungsindustrie, die Rechnung zahlen die Staaten.

Wolfgang Mueller:

Die Ukraine war nach dem Zerfall der Sowjetunion die drittgrößte Atommacht der Welt und hat im Budapester Memorandum 1994 auf diese Atomwaffen aus Sowjetbeständen verzichtet und sie auf Drängen der Großmächte an Russland zur Vernichtung übergeben. Im Gegenzug wurde ihr von diesen die Achtung ihrer Souveränität und Integrität zugesagt. Diese Zusage hat Russland – neben zahlreichen anderen Verträgen von der UNO-Charta bis zur KSZE-Schlussakte – gebrochen.

Die Ukraine (...) hat im Budapester Memorandum 1994 auf diese Atomwaffen aus Sowjetbeständen (...) verzichtet.

Präsident Selenskyj hat daher 2022 nach monatelangen Kriegsvorbereitungen Russlands Konsultationen über das Memorandum gefordert. Daraus abzuleiten, dass die Ukraine Atomwaffen entwickelt, ist sehr weit hergeholt. Solche Programme nehmen Jahre in Anspruch und lassen sich praktisch nicht verbergen.

Die atomaren Abrüstungsbemühungen haben durch Russlands Krieg gegen die Ukraine sicher Schaden erlitten. Jeder kann sehen, dass Atommächte ohne Risiko andere Staaten überfallen können. Russland droht mehr oder weniger wöchentlich mit einem Atomwaffeneinsatz, das ist offenbar Teil seiner Doktrin und psychologischen Kriegsführung gegen den Westen. Aber der Krieg zeigt anderen Staaten, dass der nukleare Verzicht ein hohes Risiko birgt. Was der Ukraine passiert, kann auch anderen Staaten widerfahren.

 

Auf einen Blick

Wolfgang Mueller ist Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion, zum Kalten Krieg sowie zur Wahrnehmungsgeschichte und zur Geschichte des Politischen Denkens.