Sappho gilt als wichtigste Lyrikerin der Antike, obwohl nur rund sieben Prozent ihres Gesamtwerkes erhalten geblieben sind. Horaz bewunderte die Klarheit ihrer Sprache, Friedrich Schlegel schrieb 1798: „Hätten wir noch die sämtlichen sapphischen Gedichte: vielleicht würden wir nirgends an Homer erinnert“. Quer durch die Jahrhunderte wurden die Werke von Sappho interpretiert, aber auch weitergedichtet, die Autorin selbst unter anderem als lesbische Ikone verehrt.
Die ÖAW-Literaturwissenschaftlerin Laura Untner nimmt in ihrem jüngsten Buch „Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum“ nun die Wirkungsgeschichte unter die Lupe. „Je nachdem, wie eine Gesellschaft schreibende oder homosexuelle Frauen wahrnimmt, gestaltet sich auch die Rezeption“, sagt Untner: „Es verwundert nicht, dass im 19. Jahrhundert, als Homosexualität gesellschaftlich nicht akzeptiert war, auch Sappho primär als heterosexuelle, tugendhafte Frau dargestellt wird.“
VON TUGENDHAFT BIS LASZIV
Es gibt wenig gesicherte Informationen zum Werk und Leben von Sappho. Eignet sie sich deshalb so gut als Projektionsfläche?
Laura Untner: Das ist sicher einer der zentralen Punkte, warum sie so viel in der Literaturgeschichte rezipiert wurde und wird. Diese Lücke bietet Raum, um auf einer literarischen Ebene Fragmente von ihr zu vervollständigen oder weiterzuschreiben. Weil sehr unklar ist, wer Sappho überhaupt gewesen ist, wurde sie – auf einer biografischen Ebene – als Vorbild für tugendhafte bürgerliche Frauen ebenso verwendet wie als Beispiel für eine äußerst laszive sexuelle Frau.
Ich wollte verschiedenste Aspekte der Rezeptionsgeschichte zeigen: Sappho als große Dichterin, als Schul- und Chorleiterin, als Leiterin eines Kultes, als homoerotisch Begehrende.
Wie viele Texte beschäftigen sich im deutschsprachigen Raum mit ihr?
Untner: 500 waren mir bekannt als das Buch in Druck ging. In den letzten Monaten habe ich auch noch Zeitschriftendatenbanken durchforstet und viele bislang unbekannte Feuilleton-Romane über sie entdeckt. In meinem Buch sind 102 Texte abgedruckt, vom 15. bis zum 21. Jahrhundert, teilweise in Auszügen. Eines der frühesten Rezeptionszeugnisse im deutschsprachigen Raum ist eine Übersetzung von Giovanni Boccaccios De mulieribus claris von Heinrich Steinhöwel, in der Sappho als große Dichterin beschrieben wird. Im 18. Jahrhundert wurde die Autorin Anna Louisa Karsch als „neue Sappho“ berühmt. In der Literaturgeschichte gab es viele schreibende Frauen, die als „moderne Sappho“ oder „deutsche Sappho“ bezeichnet wurden. Karsch ist ein zentrales Beispiel, sie hat rund 120 Gedichte verfasst, die auf Sappho Bezug nehmen. Sie hat sich auch selbst als Sappho inszeniert. Es gibt aber auch zeitgenössische Beispiele: Ann Cotten etwa spinnt das Plejaden-Fragment weiter.
FRAUEN FEHLEN IN DER LITERATURGESCHICHTE
Gibt es Tendenzen, die zeitspezifisch sind in der Rezeption?
Untner: Je nachdem, wie eine Gesellschaft schreibende oder homosexuelle Frauen wahrnimmt, gestaltet sich auch die Rezeption. Es verwundert nicht, dass im 19. Jahrhundert, als Homosexualität gesellschaftlich nicht akzeptiert war, auch Sappho primär als heterosexuelle, tugendhafte Frau dargestellt wird. Ein Beispiel dafür ist Franz Grillparzers Trauerspiel „Sappho“ von 1818. Heute wiederum ist Sappho vor allem im englischsprachigen Raum eine lesbische Ikone, hat fast schon einen Pop-Status. Ich wollte verschiedenste Aspekte der Rezeptionsgeschichte zeigen: Sappho als große Dichterin, als Schul- und Chorleiterin, als Leiterin eines Kultes, als homoerotisch Begehrende.
Frauen wurden lange im Kanon vergessen, die Kunst- und Literaturgeschichte wird gerade revidiert.
Gab es Quellen, die Sie überrascht haben?
Untner: Es gibt Texte, in denen die Theorie aufgenommen wird, Sappho sei pädophil gewesen. Sie hätte die jungen Frauen um sich herum sexuell missbraucht. Es gab also keine romantischen Beziehungen, sondern eine Ausbeutungssituation. Spannend ist auch, dass im 21. Jahrhundert so viele Rezeptionszeugnisse wie noch nie entstehen. Das mag auch daran liegen, dass Frauen als Kunstschaffende gerade verstärkt wiederentdeckt werden. Sie wurden lange im Kanon vergessen, die Kunst- und Literaturgeschichte wird gerade revidiert. Sappho ist eine der wenigen, die durch die Jahrhunderte eine zentrale Stellung einnehmen konnte.